Ein drahtloses Frühwarnsystem für Sturzfluten in Santiago de Chile

KOM-Wissenschaftler Benjamin Becker will herausfinden, wie man Frühwarnsysteme für Sturzfluten am Beispiel von Santiago de Chile so gestaltet, dass die Warnung sicher und schnell bei der Bevölkerung ankommt. Nur dann kann sie rechtzeitig evakuiert werden. Das System dient als ein Baustein für ein funktionierendes Krisenmanagement gefährdeter Städte. Die Forschung findet im Rahmen des LOEWE-Zentrums emergenCITY statt, das Konzepte zur Erhöhung der Resilienz digitaler Städte gegen Katastrophen erarbeitet.

Benjamin, woran forschst du aktuell?

Ich forsche zusammen mit Prof. Christian Oberli von der Pontificia Universidad Católica de Chile an einem Frühwarnsystem für Sturzfluten in Santiago de Chile. Es soll die Grundlage dafür legen, die Bevölkerung früh genug zu warnen, um sie im Notfall rechtzeitig evakuieren zu können. Dazu haben wir in den Anden eine Reihe von Messstationen positioniert. Dieser Verbund aus mehreren Messstationen nennt sich Wireless Sensor Network und misst beispielsweise Temperatur, Regenfall, Luftfeuchtigkeit oder Luftdruck. Das Netzwerk ist in der Lage, die erhobenen Informationen drahtlos untereinander auszutauschen und auf diese Weise von Station zu Station ins Tal zur Auswertung zu schicken. Für diese Kommunikation entwickeln wir ein spezielles Protokoll.

Vor welchen Herausforderungen steht ihr konkret?

Eine Station für sich alleine nützt nichts und hat auch nicht genug Reichweite, um ins Tal zu senden. Also müssen sich die Stationen gegenseitig unterstützen, um die Daten zur Auswertung ins Tal schicken zu können. Die große Herausforderung ist, dass die Daten innerhalb sehr kurzer Zeitfristen im Tal ankommen müssen – nur dann hat die Warnung einen Nutzen. Dabei ist die Maßgabe nicht, dass die Daten im Durchschnitt möglichst schnell ankommen, sondern innerhalb einer strengen zeitlichen Frist. Und genau für diese Maßgabe entwickeln wir ein neues Kommunikationsprotokoll. Wichtig ist, dass die Stationen extrem energieeffizient arbeiten müssen, da sie nur einen begrenzten Energievorrat haben. Deshalb darf die Kommunikation nur einen möglichst geringen Teil der vorhandenen Energie beanspruchen. Eine Energiesparmaßnahme ist, dass die Stationen lange Schlafphasen haben und nur einen Bruchteil der Zeit aktiv sind.

Wie muss ich mir die Entwicklung und entsprechende Tests vorstellen? Weil ihr ja sicher nicht permanent Tests in luftiger Höhe durchführen könnt, nehme ich an.

Ein Teil der Forschung basiert auf real erhobenen Daten vor Ort, wobei wir zurzeit sehr viel digital simulieren und so testen, ob unsere Konzepte funktionieren. Unser Protokoll gibt auf einem höheren Level die Weiterleitungslogik der Datenpakete vor. Dabei kann das Datenpaket über verschiedene Routen gehen und nicht immer direkt zum Ziel gesendet werden, wenn es keine direkte Verbindung ins Tal gibt. Es geht immer nur von Knoten zu Knoten. Und zwischen diesen Knoten spielt es natürlich auch eine Rolle, ob und wie schnell die drahtlose Datenübertragung funktioniert und nicht durch verschiedenste Einflüsse wie Wetter, lange Distanzen oder landschaftliche Hindernisse gestört wird. Zusätzlich kann es hinderlich sein, dass mehrere Knoten eventuell zeitgleich Datenpakete übertragen, sodass beim Empfänger nur noch Rauschen ankommt und Datenpakete mehrfach gesendet werden müssen. Die Frage ist also: Wie soll das Paket sinnvoll weitergeleitet werden, damit das Paket möglichst innerhalb einer bestimmten Zeit am Ziel ankommt?

Verstehe! Jetzt frage ich mich: Nach welcher Logik ist euer Protokoll aufgebaut? Welche Faktoren sind maßgeblich für die Entscheidung, welchen Weg das Datenpaket nimmt?

Für die Logik habe ich ein Beispiel mitgebracht, das man mit dieser Grafik gut beschreiben kann:

Quelle: FG Multimedia Kommunikation / Alisha Hirsch

Der Brief hat verschiedene Möglichkeiten an sein Ziel zu kommen. Die Strecke links außen, nach rechts und dann links am Gebirge vorbei oder dann den kurzen Weg mitten durch das Gebirge. Wichtig ist, dass sich der Brief an einigen Punkten „entscheiden“ kann und beispielsweise bei der Wahl des rechten Wegs mehr Optionen hat. Denn überall können schlechte Umstände herrschen, die den Versand negativ beeinflussen. Angenommen der Brief ist nach rechts gestartet und merkt, er hat nur noch ein paar Minuten übrig, dann ist klar: er muss den kurzen, aber riskanteren Weg durch das Gebirge nehmen, um überhaupt noch eine Chance zu haben. Hätte er allerdings noch üppig Zeit übrig, wäre der Weg um das Gebirge herum die beste Wahl gewesen. Die Zeit, die noch übrig ist und die Sendebedingungen auf der jeweiligen Strecke sind die relevanten Kategorien bei der Fällung einer Entscheidung. Bei jedem Schritt, den der Brief zurücklegt, können sich die Variablen ändern und die Entscheidungen den Brief weiterzuleiten hängen hiervon ab. Mit dieser Logik versuchen wir, die Daten innerhalb von kurzen Zeitfristen ins Tal zu schicken, um die Bevölkerung rechtzeitig zu warnen und damit einer humanitären Katastrophe mit digitalen Mitteln vorzubeugen.

Beitragsbild: Christian Oberli