Forschen über den Tellerrand hinaus: Prof. Klara Nahrstedt

Prof. Klara Nahrstedt lehrt und forscht über Computernetzwerke und Multimedia Kommunikation an der University of Illinois at Urbana-Champaign. Sie war maßgeblich an der Konzeption des Sonderforschungsbereichs MAKI beteiligt. Als Mitglied der renommierten Leopoldina, der weltweit ältesten Wissenschaftsakademie, bereichert Sie das Fachgebiet Multimedia Kommunikation mit ihrer Expertise. Klara Nahrstedt blickt gerne über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinaus: Sie interessiert die Verbindung von Biologie, Physik, den Ingenieurwissenschaften und der Informatik. Insbesondere, wie Dingwelt und virtuelle Welt in einer neuen Weise zusammengedacht werden können. Im Interview haben wir mit ihr über die mögliche Symbiose zwischen Kunst und Wissenschaft, die großen interdisziplinären Herausforderungen der Zukunft sowie die Verantwortung des Ingenieurs gesprochen.

Das Interview wurde auf Englisch geführt und anschließend ins Deutsche übersetzt.

Klara, Du bist zweieinhalb Wochen hier bei KOM zu Gast. An welchen Fragen arbeitet ihr zusammen?

Ich bin am meisten daran interessiert, einige Fragen in Bezug auf die Transition zu verstehen. Das betrifft die Forschung bei MAKI. Wir haben bereits 2010, als ich in meinem Sabbatical hier war, über Fragen der Adaptivität und Transition diskutiert. Also wie Transitionen zwischen Protokollen und Verteiler-Netzwerken aussehen könnten. Ich bin gespannt, wie die Teams von KOM und MAKI sich dahingehend weiterentwickelt haben. Ich will sehen, wo ich mit meinem Wissen einen Beitrag leisten kann. Umgekehrt möchte ich auch etwas von MAKI lernen und sehen, was ich davon in meine Forschung einbetten kann.

Du forschst über Computernetzwerke und multimediale Datenübertragung. Wie würdest Du Dein Forschungsgebiet einem Fachfremden erklären?

Ein Ziel meiner gesamten Forschung ist es, die Verteilung und Verarbeitung von Informationen über digitale Netzwerke zu verstehen, die Dienste für Live- oder On-Demand-Kommunikation bereitstellen. Wie werden beispielsweise Videodaten, Audiodaten oder aktueller: wie werden sensorische Informationen in cyberphysischen Systemen verteilt? Ich wollte genau verstehen, wie Algorithmen, Mechanismen, Dienste und Architekturen das bewerkstelligen. Die Nutzung dafür ist sehr unterschiedlich: Das können Leute im privaten Bereich sein, die Unterhaltungsangebote wahrnehmen, das können Tänzerinnen und Tänzer sein, mit denen ich bei der Entwicklung von teleimmersiven Systemen zusammengearbeitet habe. Oder auch Materialwissenschaftler aus der Halbleiterforschung, die mit unserer Hilfe aus Mikroskopen Informationen erhoben, über unser Framework in einer Cloud gespeichert und visualisiert haben. Und das alles in einer Art und Weise, die zeitliche und sicherheitstechnische Aspekte besonders berücksichtigt.

Ich bin auf eine sehr interessante Publikation aus dem Jahr 2008 von Dir gestoßen. Dort hast Du Tänzerinnen und Tänzer in einer von Dir entwickelten virtuellen Umgebung tanzen lassen. Was genau ist da passiert?

Einer der interessanten Aspekte des Systems war das eingebaute Multikamera-System. Vom Aufbau her ist das wie eine Videokonferenz, aber eben die nächste Generation, mit einer 360-Grad-Ansicht. Wichtig für uns war: Wer könnte von so einem System profitieren? Eine Idee war es also, Tänzerinnen und Tänzer zu involvieren. Es geht um ein modernes, experimentelles „Tanzen mit Technologie“, das an einigen Institutionen viele Anhänger gefunden hat. Weil man innerhalb der Umgebung diese mannigfaltigen Perspektiven hat, kann man sich selbst sehen, wie in einem Raum voller Spiegel. Du kannst dich selbst sehen, aber genauso, wie du von hinten aussiehst. Das erlaubt die 360-Grad-Ansicht. Die Tänzerinnen und Tänzer haben mit der Technologie „gespielt“. Die Frage war: Können sie tatsächlich durch diese Technologie Bewegungen machen, die normalerweise physisch gar nicht möglich wären? Zum Beispiel einfach in der Luft tanzen? Das konnten sie! Zum Beispiel war es möglich, visuelle Effekte zu kreieren, bei denen ein Tänzer auf der Handfläche eines anderen tanzte. So wurden plötzlich neue Choreographien entwickelt, die rein physisch auf der Bühne so nicht möglich gewesen wären.

Das ist eine tolle Symbiose aus Kunst und Wissenschaft. Wenn Du gedanklich einmal ganz frei assoziierst, woran würdest du gerne wissenschaftlich arbeiten?

Wenn ich frei wäre… Naja, wollen wir in dem Bereich bleiben, den ich kenne. Eine Sache, über die ich oft nachdenke, ist Energie. Wie versorgen wir alle diese Geräte mit Strom in einer viel effektiveren Art und Weise? Können wir die Natur nutzen, können wir Energie von unseren Körpern für bestimmte Geräte nutzen oder sie aus der Luft nehmen? Das betrifft in hohem Maße das Internet der Dinge. Und dabei die physischen Umgebungen besser zu erschließen, zusammen mit den Cyberkomponenten. Wenn man sich den Cyberspace und den physischen Raum ansieht, dann sind diese beiden Bereiche stark getrennt. Könnten sie nicht mehr gemischt sein?

Eine weitere, große Herausforderung ist es zu lernen, wie biologische Schutzmechanismen funktionieren. Und können einige dieser Schutzmechanismen dazu dienen, auf Computer-Mechanismen angewendet zu werden? Warum ist unsere Haut geschützt und wie, beispielsweise gegen Hitze, Druck und so weiter. Können einige dieser Ideen aus der Biologie übersetzt werden? Kann die Wissenschaft uns zeigen, wie sich die biologischen Systeme selbst schützen? Ich denke, die Integration und das Verständnis der Symbiose steckt noch in den Kinderschuhen.

Das ist also ein sehr interdisziplinärer Ansatz?

Sehr interdisziplinär! Für mich ist die große Frage, wie die Cyberwelt von der physikalischen Welt lernen und sie benutzen kann – und umgekehrt. Es gibt eine Menge an Computertechnologie, in der nicht über Nachhaltigkeit nachgedacht wurde oder darüber, was fünf bis zehn Jahre später passiert. Und das ist der Punkt, an dem uns diese Hacker zur Zeit treffen. Jeden von uns. Ich gebe dir ein Beispiel: Ich arbeite mit Materialwissenschaftlern zusammen, ein sehr spannendes Projekt. Materialwissenschaftler arbeiten mit Mikroskopen. Ein Mikroskop kostet mehrere Millionen Dollar. Für viele Laboratorien ist der Einkauf von Mikroskopen eine Investition für zehn Jahre. Aber: Betriebssystem-Updates werden dafür nur alle drei Jahre eingespielt. Die Cyberkomponenten bewegen Optiken und es braucht lange Zeit, um sie zu kalibrieren. Die Kalibrierung findet direkt im Systemkern statt. Und innerhalb des Systemkerns sind alle diese Strukturen äußerst sorgfältig gestaltet, um die Optik zu steuern. Nun gibt Microsoft einen Patch frei, aber er kann nicht verwendet werden, da er die Arbeitsweise des Mikroskops verändern könnte. Computer, die diese Mikroskope steuern, müssen offline genommen werden, weil sie ohne Patches nicht mehr sicher sind. Man kann sich vorstellen, dass plötzlich alle der Innovationen, die wir in der Cyberwelt gemacht haben: Cloud, High Speed Internet, nutzlos sind! Die heutigen Cyber-Attacken, beispielsweise in der Ukraine, in Russland und jüngst auf die Deutsche Bahn, das sind alles Attacken auf veraltete Betriebssysteme: Windows XP, Windows NT, Windows 2000. Als Informatikerin sage ich: Wir haben eine Verantwortung, die Dingwelt, die Welt der Menschen besser zu verstehen, um adäquate Cyberlösungen zu entwickeln.

Die Verantwortung des Ingenieurs…

Die Verantwortung des Ingenieurs, richtig! Und Ingenieure haben eine viel engere Beziehung zur materialen Welt. Ärzte haben eine viel engere Beziehung zur materialen Welt als Informatiker. Und ich fühle wirklich, dass wir Informatiker mehr in diese Richtung gehen müssen. Gerade weil wir an der Schnittstelle zwischen Mathematik, Algorithmenentwicklung bis hin zur ingenieurwissenschaftlichen Entwicklung auf materialer Ebene stehen.

Vielen Dank für das interessante Interview!